Heute ist Marie der Star !

Heute ist Marie der Star !

SSW 37+5, Kind soll lebend fotografiert werden; Versterben jederzeit möglich!! EILT!!!

Ich sitze gerade noch im Büro, als mich der Alarm erreicht. In wenigen Minuten werde ich nach Hause gehen, in Gedanken schon bei der nächsten Kundin in meiner Gesundheitspraxis. In einer guten Stunde würde sie eine Behandlung bekommen, wie fast jede Woche um diese Zeit. Doch heute wird der Termin ausfallen. Die Zeilen der Alarmierung lassen meinen Puls höher schlagen. Ich denke nur eins: Oh, nein! Ich habe keine Kamera bei mir. Auch keinen Vertrag, keine Kärtchen, nichts. Ich bin nur 200m entfernt, und nun das! Ich schreib schnell ins Forum, dass ich in etwa einer Stunde dort sein kann, weil ich mir meine Kamera von Zuhause holen muss. Doch als ich das abschicke, fällt mir ein, dass wir in der Firma eine Kamera haben müssten. Ich rufe den Kollegen an, ob ich sie mir ausleihen darf. Ich laufe in sein Büro, um sie abzuholen. Noch schnell den PC abdrehen, Behandlung absagen, Hund wird ausgeführt. Alles läuft. Keine zehn Minuten später bin ich schon am Weg ins Klinikum. Bei meinen Einsätzen war es bisher so, dass ich mich immer bei der Kontakt-Schwester anmelde. So auch heute. Sr. Irene war allerdings gerade auf Mittag, war aber kein Problem, eine andere hat sofort übernommen. Die Schwester holt gleich die Kleine aus dem Säuglingszimmer, ich muss nur kurz warten. Sie fragt noch, ob ich beim Fotografieren ihre Hilfe brauche. Ich danke ihr und sage, dass ich das mit den Eltern bestimmt allein hinbekomme. Als wir gemeinsam zu den Eltern gehen, erzählt sie mir von Marie. „Sehen sie sich das an! So eine süße Maus! So ein wunderhübsches Mädchen! Die Eltern haben erst vor drei Wochen beim Ultraschall erfahren, dass Marie kein Gehirn hat.“

Marie liegt so friedlich in ihrem Bettchen, kein Mensch würde erahnen, dass dieses liebe kleine Mädchen nicht lange auf dieser Welt sein darf.

„Darf ich fragen, wie sie dann überhaupt am Leben sein kann?“ frage ich. „Sie hat zwei ganz winzige Hirnstämme, der Rest ist Wasser,“ klärt mich die Schwester auf.


„Kann man sagen, wie lange……?“ „Nein….“ Die Eltern strahlen, als sie ihre kleine Tochter in Empfang nehmen. Dieser Einsatz fühlt sich ganz anders an, als die bisherigen. Es ist, als ob ich ein „normales“ Baby fotografiere. Die Eltern sind so glücklich und machen Scherze mit Marie. Und ich frage mich: Ja, warum denn nicht? Zum Trauern bleibt wohl noch genug Zeit…..Sie genießen diese Minuten vollends mit ihrem Schatz, obwohl jeder im Raum weiß, welches Schicksal noch bevorsteht. Nur weiß man den Zeitpunkt nicht. Und das ist gut so für den Moment. Katrin und Roman sind erstaunt, wie schnell ich kommen konnte. Sie hätten so gerne noch Fotos mit dem Kuscheltier und anderen Kleidungsstücken. „Aber die Oma kommt erst so gegen 16 Uhr in die Klinik,“ sagt Roman. „Kein Problem, ich kann ja nachher nochmal kommen.“ Sie trauen sich das Angebot fast nicht annehmen, sichtlich peinlich ist es, als ich mein Angebot nochmal wiederhole, und sie darin bestärke, wie schön es doch wäre, wenn auch die restliche Familie Bilder mit Marie hätte.

Davon sind sie auch begeistert und nach ca. einer Stunde mach ich mich auf den Heimweg. Wir vereinbaren, dass mich Roman anruft, sobald die anderen angekommen sind.


Ich lasse ihnen den Vertrag dort, den ich mir noch schnell im Büro ausdrucken konnte.Um 16 Uhr war es soweit, die Familie ist nun bei ihnen, der Papa ruft mich an. Nach einer halben Stunde bin ich wieder im Klinikum, und ich werde sehr freundlich von den Angehörigen begrüßt. Es herrscht beinahe Freudenstimmung, jedoch traut sich niemand, diese zuzulassen. Die Gefühle im Raum sind extrem zweigeteilt: Weinen oder Lachen? Was „passt“ besser? Jeder ist verleitet, sich „schön“ für die Bilder zu positionieren, die verheulten Augen „wegzumachen“, keine Traurigkeit zu zeigen. Ich sage ihnen, dass alles was da ist in ihrem Inneren, genau richtig ist. Und Roman, der Papa, spricht mir aus der Seele: „Heute ist Marie der Star, alles andere ist egal!“ Wir machen gemeinsame Familienfotos, und die Großeltern, jede Tante, Patentante und –Onkel haben die Möglichkeit, einzelne Erinnerungen mit ihrer Enkelin, Nichte zu schaffen. Bei Oma laufen dann heftig die Tränen. Als die Patentante Marie in den Arm nimmt, sie den „Einschlaffreund“ dazu nimmt und die Musik abspielt, wird es still im Raum….Alle genießen es, das Kuscheln, das Streicheln, die Zeit mit Marie. Zwischendurch fragt mich Roman, wie lange es uns schon gibt, und wie dieser Verein entstanden ist. Er betont auch, wie toll er unsere Arbeit findet.Ich habe ein paar Dekosachen mitgebracht, ich frage die Eltern, ob etwas gewünscht ist. Sie sind ganz entzückt und suchen sich weiße Margeriten, ein rosa Engelchen, sowie einen Schmetterling aus, der perfekt zu Marie´s Strampler passt, denn dort drohnt eine Biene. Zwei kleine Herzpolster möchte Katrin auch noch auf den Fotos haben. Lange kann ich die Einzelfotos von Marie leider nicht machen, denn sie kühlt sehr schnell aus und muss wieder warm eingepackt werden. Nun haben wir den Eindruck, dass genug Fotos gemacht wurden. Roman lobt seine Tochter sehr, und sagt ihr, wie toll sie das gemacht hat. Die Margeriten hat sie sogar selbst in ihrem Händchen gehalten! Sr. Irene kommt am Schluss, um Marie die Wärmepackungen ins Bettchen zu legen. Sie bedankt sich und ist sehr gerührt von unserer Arbeit. Ich gebe ihr noch zwei Folder mit, damit sie unsere Infos weitergeben kann.Dann verabschiede ich mich von den Eltern, den Verwandten und auch noch von Marie. „Mach´s gut, kleine Maus!“, ich wünsche ihr in Gedanken eine gute Reise, wohin sie auch immer gehen mag. Vermutlich zu den Sternen.



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