Aurelio ist gegangen - und es ist gut so

Aurelio ist gegangen - und es ist gut so

Als Donnerstag Nachmittag der Alarm auf der NotfallApp einging, holte ich gerade meine Kinder von Kita und Schule ab. Ein kleiner Junge mit schwerem Herzfehler, geboren in der 32. Woche - und er lebt noch! Ich übernahm den Einsatz, rief bei den Eltern an. Vielleicht hatten wir Glück und würden noch Lebendbilder machen können? Der Empfang bei den Eltern im Krankenhaus war allerdings so schlecht, dass kein einziger meiner Anrufe durchging. Ich hinterließ eine SMS. Am späteren Abend dann der Rückruf - gerade als mein eigener Sohn einen Wutanfall hatte, weil ich nicht wollte, dass die Kinderküche erneut mit Wasser überflutet wird. (Was für eine Lappalie, wenn ich nun daran denke...) Eilig verließ ich das Kinderzimmer, das Türgitter ließ ich einschnappen, um "in Ruhe" zu telefonieren. Das Theater im Kinderzimmer ging aber weiter. Eine Etage tiefer, im Wohnzimmer, konnte ich dann aber sprechen. Ein lieber Vater, ruhige Stimme. "Sie haben auch Kinder, wie ich höre? (...) Wir haben auch zwei Kinder zuhause (...). Unser Aurelio ist heute geboren worden, aber bei ihm sieht es nicht gut aus. Es werden einige Untersuchungen gemacht. Morgen wissen wir mehr." Ich sagte ihm, dass er jederzeit anrufen könne, auch nachts. Und dass wir gerne DU sagen können, schließlich lässt mich die Familie an ihrer engsten und emotionalsten Familiengeschichte teilhaben. Wir brauchen also eine Vertrauensbasis. Ich erzählte ihm dass Aurelio auf jeden Fall von uns fotografiert wird. Je nachdem wann die Familie bereit für Bilder wäre, würde ich dann selbst hinfahren können. "Ich kann gar nicht glauben, dass es heute noch solche Menschen gibt, die so etwas für andere tun. Das ist so toll", sagte er. Ein so schöner Satz. Wir verabredeten noch ein Telefonat für den nächsten Tag, wenn die Untersuchungsergebnisse vorliegen. Immer wieder schaute ich am darauf folgenden Tag aufs Telefon, bis dann am Abend die Nummer von Aurelio`s Eltern auf dem Display erschien. Ich saß gerade im Auto, fuhr rechts ran.

"Es ist keine Trisomie und Aurelio ist jetzt erstmal stabil.", welch guten Nachrichten! Das Wochenende verlief ruhig. Sonntag Abend hatte ich aber doch irgendwie ein "komisches" Gefühl. Ich ließ das Handy vorsichtshalber mal an, was ich sonst nie mache, weil es ja immer wieder den ein oder anderen gibt, der nachts um 3 mal eine WhattsApp schicken möchten... Montag Morgen 6 Uhr - das Telefon geht. Wäre das Handy lautlos gewesen... zum Glück habe ich es gehört! Aurelios Mama, weinend, verzweifelt... "Mein Aurelio ist gestorben." - ein Satz, der einem direkt unter die Haut geht. Sie sagte noch, dass ihr die Fotos unendlich wichtig wären, ob jemand kommen könnte. Natürlich! Im DSK Forum informierte ich noch schnell die Kollegen, vielleicht könnte ja jemand eher dort sein als ich? Immerhin sind es bei mir noch 45km zu fahren und die Kinder muss ich vorher noch zur Schule und in die Kita bringen. Früher konnte aber niemand, also wollte ich allerspätestens um 10 Uhr dort sein. Ich brauchte knapp 1,5 Stunden aufgrund des Berufsverkehrs. Die Parkplatzsuche wurde zur Tortur... als ich endlich einen freien Platz gefunden hatte, informierte ich Aurelio`s Eltern und der Papa holte mich am Haupteingang ab. Es ist so schwer bei der "Begrüßung" die richtigen Worte zu finden... die Situation ist so emotional und tausend Gedanken schweben durch den Kopf. Man sah ihm die Traurigkeit an, er kämpfte so sehr mit den Tränen, machte sich gleichzeitig Sorgen um seine Frau. Zusammen gingen wir ins Nebengebäude - Kinderintensivstation. Ein Raum neben dem anderen, in jedem mehrere kleine und kleinste Patienten - überall Eltern, die in Inkubatoren schauen. Ein Ort der Hoffnung und hochmoderner medizinischen Möglichkeiten. Die Station ist im Rahmen der Möglichkeiten liebevoll hergerichtet. Die Eltern sollen sich wohlfühlen. Im Gang hatten sie schon Lichter für Aurelio und eine kleine Gedenktafel aufgestellt. "Wir müssen in den Raum am Ende des Ganges, dort wo die Sterne hängen...", sagte Aurelio`s Papa. Dann öffnete er die Tür. Obwohl es bereits halb 10 war, war der Raum nicht wirklich hell. Es war ein ungemütlicher kalter Tag. Tageslicht fiel durch die Fensterfront. Am Ende des Raumes, direkt vor dem Fenster, saß Aurelio`s hübsche Mama und schaute auf ihr kleines Bündel hinunter. Sie hob ruhig den Kopf "Wir haben schon auf dich gewartet. Ich freu mich so, dass du da bist!". Wir drückten uns. Ihr waren die 4 schlaflosen Nächte deutlich anzusehen. Beide waren so erschöpft... Und Aurelio - er sah so friedlich aus. Das kleine Gesicht zum Fenster gerichtet, ein Lächeln auf den Lippen. Auch ihm sah man die erfolglosen Rettungsversuche durchaus an. Aber jetzt war alles ruhig und still geworden. "Aurelio ist gegangen, und es ist okay so." sagte sie. Wir redeten erst ein wenig und dann machte ich einige Aufnahmen. Versuchte Details festzuhalten. Hände, Gesicht, Füße. Aber auch den liebevollen Blick seiner Mama. Aurelio`s Herz war nur zur Hälfte ausgebildet. Es gab Wasseransammlungen im Körper und Schmerzmittel. Die letzten 4 Tage wurde er nur behandelt... seine Eltern konnten ihn das erste Mal auf den Arm nehmen, als man das Unvermeidbare vorhersehen konnte. Es dauerte einige wenige Stunden, bis er dann friedlich auf dem Arm seiner Eltern die Augen für immer schloss.

Was müssen die Eltern in diesen Tagen geleistet haben... Die Hoffnung, und dann doch die Realität. „Es war alles vorbereitet. Er hätte einen schönen Platz bei uns gehabt. Aurelio gehört dazu.“ Aurelio konnte am Samstag zuvor noch getauft werden. An dieser Stelle finde ich Kirche auch so unheimlich wichtig. Sie spendet Trost in genau diesen Momenten. Es gibt Halt.

Als wir die Bilder gemacht haben, sich der Papa von seinem Sohn verabschiedet hat, ist seine Mama noch eine kurze Weile im Raum verblieben. "Wir werden nun auch nach Hause zu den Kindern fahren, ich möchte nur noch kurz Tschüss sagen." Zusammen haben wir noch etwas in der Cafeteria gesprochen und einen Kaffee getrunken. Diesen "Abschluss" fand besonders ich für die Eltern sehr angenehm, um nicht so abrupt aus dem Krankenhaus zu gehen und noch ein paar Worte zu wechseln. Man ist ja irgendwie doch in die ganze Geschichte "involviert", auch wenn man sich kaum kennt. Man ist sich plötzlich nah. Und das ist auch gut so. Ohne Empathie ginge es nicht. Ich bin froh, dass ich es ehrenamtlich machen kann oder darf. Es fühlt sich so an, als „müsse“ ich es einfach tun. Ich hätte es schon viel früher machen sollen. Alle Sorgen waren unbegründet. Es ist die wertvollste Arbeit. Man tut etwas sinnvolles.

Die Bilder konnte ich den Eltern schon am nächsten Tag übergeben. Sie haben sich so sehr bedankt... So tolle Eltern. Es hat mich so sehr beeindruckt, wie sich beide gegenseitig um sich kümmerten. Jeder fragte den anderen, ob „es ginge“... ob er irgendwas brauche...

Beide werden die Geschehnisse verarbeiten, gemeinsam. Mit ihren Kindern. Sie sind stark. Eine Familie mit Werten.

Gestern bekam ich ein Foto von Aurelios kleinem Sarg zugeschickt... Dunkelblau mit Sternchen und Mond...umgeben von vielen Kerzen. Da habe auch ich Abschied genommen vom kleinen Kämpfer... natürlich tut es auch mir weh. Aurelio heißt "Gold der Sonne" und seine Beerdigung soll wunderschön gewesen sein. Hebamme und Schwestern der Kinderintensiv kamen und gemeinsam lies man Ballons steigen - die Sonne schien genau in diesem Moment. Seine Mama sagte, es war magisch. Das glaube ich ganz sicher. Aurelio ist nun ein Sternenkind und passt auf seine Geschwister und seine Eltern auf. Für immer.

Und wenn ihnen danach ist, schauen sie sich seine Bilder an.


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